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Jochen Gerz

Jochen Gerz, Von einer bestimmten Form…, Foto/Text #59, 1976, Fotografie, je 13,5 x 18,5 cm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
Jochen Gerz, Von einer bestimmten Form…, Foto/Text #59, 1976, Fotografie, je 13,5 x 18,5 cm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2014

Jochen Gerz (*1940 in Berlin) beginnt nach einigen Studiensemestern in Köln, Basel und London in den 1960er Jahren mit experimenteller und konkreter Poesie.

Parallel zu erster Video-, Aktions- und Konzeptkunst im öffentlichen Raum entstehen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre seine Foto/Text-Arbeiten, in denen er eigene, beiläufige Fotos und Fotoserien einem Text bzw. Textfragment gegenüber stellt. Das fotografisch Abgebildete illustriert nicht den Inhalt des Textes, genauso wie der Text wiederum nicht das Abgelichtete erläutert. Der Text fügt dem Foto stattdessen eine weitere Wahrnehmungsebene hinzu. "Habe ich ein Bild vor mir, mache ich mir Wörter, und habe ich einen Text vor mir, mache ich mir ein Bild. Das Bild schafft den Mangel, der auf den Text verweist, und der Text bleibt undurchsichtig, um auf das Bild zurückzuweisen.", erläutert Jochen Gerz aus der Perspektive des Betrachters sein Spiel mit der Erwartung und Nichterfüllung (Jochen Gerz - Wenn sie alleine waren Foto/Text und Video 1969 bis 1982, Steidl Verlag 2002). Gerz nimmt dem Betrachter durch die Kombination aus Foto und Text und ihre serielle Anordnung in kleinen Rahmeneinheiten die vermeintliche Sicherheit, ein Foto gäbe das eine Bild wieder und ein Text den einen Inhalt.

Dem Künstler:innenarchiv der Stiftung Kunstfonds hat Jochen Gerz 2013 eine Auswahl bedeutender Foto/Text-Arbeiten übergeben, die zwischen 1973 und 1980 entstanden sind.

Von Beginn an zentral in seiner Arbeit ist die Partizipation des Betrachters. Vor dem Hintergrund seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Kunst - auch der eigenen, ihren Präsentationsformen in Ausstellungsräumen und den damit verbundenen Erwartungen des Publikums entstand 1976 »A Danish Exorcism«. Die Ausstellung in einer Museumsbibliothek in Ringkøbing bestand aus einem Text von Gerz über seine erste Erfahrung als Ausstellungsbesucher und die Einladung an das Publikum, per Polaroidbild und selbst verfasstem Text einen eigenen Beitrag zur Ausstellung zu schaffen. Es entstand eine Reihe eigenständiger Beiträge, bei denen Gerz als konzeptueller Initiator, nicht aber als Ausführender der eigenen Arbeit und Künstler im tradierten Sinn in Erscheinung getreten ist. Gerz will die Grenze zwischen Künstler und Betrachter aufheben, die Menschen durch seine Arbeit, bzw. deren Abwesenheit im Ausstellungsraum auf die eigene Kreativität hinweisen: »Eine demokratische Gesellschaft braucht eine demokratische Kunst« ist auch das Motto von »A Danish Exorcism«, die Gerz ebenfalls dem Künstler:innenarchiv der Stiftung Kunstfonds zugestiftet hat.

Neben großformatigen Mixed Media-Fotografien aus den 1990er Jahren, in denen Gerz nach den Foto/Text-Arbeiten collagierte, abstraktere Motive wählt und statt längerer separater Texte einzelne Sätze grafisch in die Arbeit integrierte, übergab der Künstler dem Archiv auch die auf seiner Arbeit im öffentlichen Raum basierende, gleichnamige Grafikserie »Die Zeugen von Cahors« (1998). Die Serie besteht aus 48 Schwarz-Weiß-Fotoporträts von älteren Anwohnerinnen der französischen Stadt Cahors. Gerz fragte sie während des Prozesses gegen Maurice Papon, der in der Region im Südwesten Frankreichs als Präfekt der Vichy-Regierung verantwortlich für die Deportation zahlreicher Juden war und im Prozess jede Verantwortung verneinte: Was ist die Wahrheit? Die Antworten der Bewohnerinnen gehen nur zum Teil auf den stark mediatisierten Prozess ein. Nur schemenhaft und fast zufällig taucht die traumatische Vergangenheit im inneren Monolog der Zeugen auf. Gerz gelingt es in der Kombination von Portrait und Text ein unerwartetes Bild zu vermitteln, das die zeitliche Distanz und das Vergessen nicht leugnet, doch zugleich die Wirklichkeit von Krieg und Besatzung spürbar macht.

Jochen Gerz gehört zu den wichtigsten deutschen Künstlern der Nachkriegszeit. Bereits 1976 bespielte er zusammen mit Joseph Beuys und Reiner Ruthenbeck den deutschen Pavillon der Biennale in Venedig. 1977 und 1987 war er Teilnehmer an der documenta. Es folgten zahlreiche internationale Einzel- und Gruppenausstellungen in Europa und Nordamerika und Lehrtätigkeiten an internationalen Hochschulen. Gerz veröffentlicht seit den 70er Jahren zahlreiche Schriften zur Kunst (u.a. »Die Zeit der Beschreibung«, 1974—83; »Life after humanism«, 1992; »Gegenwart der Kunst«, 1996). Seit Mitte der 1980er Jahre arbeitet er wie in den 1960er Jahren wieder verstärkt und seit 2000 ausschließlich an partizipativen Projekten im öffentlichen Raum. Die Arbeiten in Deutschland, Frankreich, England, Italien, Österreich und Übersee entstehen als eine Einladung an alle Teile der Öffentlichkeit, die eigene Kreativität ins Spiel zu bringen. Sie thematisieren Kunst als öffentliche Autorschaft. Nach »2 - 3 Straßen« in Dortmund, Duisburg und Mülheim an der Ruhr im Rahmen des europäischen Kulturhauptstadtjahres RUHR.2010 wurde im Dezember 2015 der »Platz des Europäischen Versprechens« mit rund 15.000 Teilnehmern aus ganz Europa eröffnet.

Ende Mai übergab Jochen Gerz den zweiten Teil seines künstlerischen Vorlasses an das Künstler:innenarchiv der Stiftung Kunstfonds. Im 1996-1997 entstandenen TALLAHASSEE FRAGMENT DER REASONS FOR SMILES luden Jochen Gerz und seine damalige Frau Esther Shalev-Gerz per Plakat und Zeitungsaufrufen Passanten in Tallahassee ein, an etwas zu denken, das sie zum Lächeln bringt, sich dabei zu fotografiern und davon Negative einzureichen, die als bildnerische Grundlage der mehrteiligen Fotoarbeit dienen. Die 1990er Arbeiten HOPES WARS und RADICAL gehören genauso wie WE ONLY DID von 1995 zu den großformatigen Mixed Media-Fotografien, in denen Jochen Gerz collagierte, abstraktere Motive wählt, in denen Wörter und einzelne Sätze grafisch in fotografische Arbeiten integriert werden. Seine ab 1968 entstandene BESCHREIBUNG DES PAPIERS fügt handgeschriebene Zeilen und fotografierte Bilder zusammen, die auch als von Gerz so definierte „visuelle Poesie“ in einem gleichnamigen Buch veröffentlicht wurden. Von der Lyrik kommend bündelt er in dieser frühen Arbeit seinen poetischen Ansatz mit dem Gedanken einer Autentizität des Materials. „Res, non verba“ heißt es in einem Teil der Arbeit, es geht um das spannende Verhältnis zwischen dem Papier als der Sache selbst, nicht (nur) seiner Beschreibung.

Jochen Gerz im Gespräch mit Berit Hempel (Oktober 2018). HIER ANHÖREN